Das Herzsutra

Sutra über die vollkommene Weisheit

Einführung

Das Herzsutra ist eine der bekanntesten und kraftvollsten buddhistischen Belehrungen. Es erklärt, wie wir während der Meditation Befreiung erlangen können, indem die Weisheit in uns erwacht. Das Herzsutra lehrt uns, dass unser bedingtes Denken, unsere Gewohnheiten des Urteilens, das Trennen und Bezeichnen von Aspekten und Aggregaten uns davon abhält, die wahre Natur der Phänomene als leer zu erkennen. Auch unsere Vorstellungen von „Geburt“ und „Tod“ basieren auf unserer dualistischen und begrenzten Sichtweise.

Wenn wir dies durch tiefe Meditation erkennen, so wird es möglich, unser Leiden zu überwinden und uns vom Kreislauf des Samsara zu befreien. Wir werden frei von Konzepten und Illusionen. Wenn wir die Vervollkommnung der Weisheit kultivieren, können wir für endlos lange Zeit im Kreislauf des Samsara verweilen. So ist es möglich, die vollkommene Weisheit, den Zustand der Erleuchtung, erlangen.

Diese Worte habe ich gehört. Einmal weilte der Alles Übertreffende Siegreiche Meister mit einer großen Versammlung des klösterlichen Sangha und einer großen Versammlung der Bodhisattvas beim Geiergipfel nahe der königlichen Stadt Rajagriha.

Zu dieser Zeit war der Alles Übertreffende Siegreiche Meister vollkommen vertieft in eine vertiefte Konzentration, die die Vielschichtigkeit der Phänomene zum Ausdruck bringt, und die als „ die Erscheinung des Tiefgründigen“ bekannt ist.

Ebenfalls zu dieser Zeit betrachtete der mit einem großen Geist begabte Bodhisattva Mahasattva, der Arya Avalokiteshvara, der Kraftvolle Alles-um-sich-Erblickende-Herr, indem er sein Verhalten mit tiefgründigem und weitreichendem unterscheidenden Gewahrsein anwendete, eingehend alles um sich herum wie folgt: Er betrachtete im Einzelnen um sich herum die fünf Aggregat-Faktoren seiner Erfahrung und sah auch jene als leer von einer sich selbst begründenden Natur.

Durch die Kraft des Buddha wandte sich dann der erhabene Shariputra mit folgenden Worten an den mit einem großen Geist beagtben Bodhisattva Mahasattva, den Arya Avalokiteshvara: „Wie muss sich ein spirituelles Kind mit den Eigenschaften der (Buddha-)Familie üben, das sein Verhalten mit tiefgründigem und weitreichenden unterscheidenden Gewahrseins ausüben will?“

Nachdem der mit einem großen Geist begabte Bodhisattva Mahasattva, der Arya Avalokiteshvara, so angesprochen wurde, richtete er folgende Worte an den Sohn des Sharadvati: „Oh Shariputra, ein spiritueller Sohn mit den Eigenschaften der Familie oder eine Tochter mit den Eigenschaften der Familie, die ihr Verhalten mit tiefgründigem und weit-reichenden unterscheidenden Gewahrsein ausführen möchten, müssen alle Dinge um sich herum im Einzelnen wie folgt ansehen:

„Er oder sie muss vollständig und im Detail die Aggregat-Faktoren seiner oder ihrer Erfahrung im Blick behalten und jene auch als leer von einer sich selbst begründenden Natur betrachten. Form – Leerheit; Leerheit – Form. Form ist nicht getrennt von Leerheit; Leerheit ist nicht getrennt von Form. (Was Form hat, das hat Leerheit; was Leerheit hat, das hat Form). Gleiches gilt für Fühlen, Unterscheiden, beeinflussende Variablen, Arten von Bewusstsein – Leerheit. So, Shariputra, verhält es sich mit allen Phänomenen – Leerheit: keine definierenden Merkmale, kein Entstehen, kein Aufhören, kein Beflecktsein, kein Getrenntsein von Befleckung, kein Ungenügendsein, kein Zusätzlichsein.

„Shariputra, weil es sich so verhält gibt es in der Leerheit, keine Form, keine Gefühl, keine Unterscheidung, keine beeinflussenden Variablen, keinerlei Arten von Bewusstsein. Kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper, keinen Geist. Keinen Anblick, keinen Klang, keinen Geruch, keinen Geschmack, keine körperliche Berührung, keine Phänomene. Keine kognitive Quelle, die ein Auge ist, bis hin zu keiner kognitiven Quelle, die ein Geist ist, (keine kognitive Quelle, die Phänomene ist), keine kognitive Quelle, die ein geistiges Bewusstsein ist. Keine Unwissenheit, kein Beseitigen der Unwissenheit, bis hin zu: kein Altern und kein Tod. Gleichermaßen gibt es kein Leiden, keine Ursache, keine Beendigung, keinen Pfadgeist. Kein tiefes Gewahrsein, keine Errungenschaft, keine Nicht-Errungenschaft.

„Shariputra, weil es sich so verhält, dadurch dass es keine Errungenschaften eines Bodhisattvas gibt, lebt er, indem er sich auf das weitreichende unterscheidende Gewahrsein verlässt, ohne geistige Schleier. (Weil es keine geistigen Schleier gibt), gibt es keine Angst, jenseits gegangen von dem, was umgekehrt ist, (so) nirvanische Erlösung, vollständig, bis hin zum Ende. Wirklich, dadurch, dass man sich auf das weitreichende unterscheidende Gewahrsein verlässt, sind alle Buddhas, die durch die drei Zeiten hindurch gelebt haben, vollständig manifeste Buddhas in unvergleichlicher und vollkommene vollständiger Buddhaschaft geworden.“

„Weil es sich so verhält, ist das weitreichende unterscheidende Gewahrsein das (großartige), den Geist beschützende Mantra, das den Geist beschützende Mantra des herausragenden Wissens, das den Geist beschützende Mantra, das unübertroffen ist, das den Geist beschützende Mantra, das dem Unvergleichlichen gleicht, das den Geist beschützende Mantra, das vollkommen alle Leiden stillt. Weil es nicht trügerisch ist, ist es auch als die Wahrheit bekannt. Im weitreichenden unterscheidenden Gewahrsein wurde das den Geist beschützende Mantra kundgetan: ‚ Tadyatha, (om) gate gate paragate parasamgate bodhi svaha. Die tatsächliche Natur (ist): Gegangen, gegangen, darüber hinaus gegangen, weit darüber hinaus gegangen, gereinigter Zustand, so sei es.’ Oh Shariputra, ein mit einem großen Geist begabter Bodhisattva Mahasattva muss sich in dieser Weise (im Verhalten) des tiefgründigen und weitreichenden unterscheidenden Gewahrseins üben.“

Dann, als der Siegreiche Alles Übertreffende Meister aus seiner vertieften Konzentration heraus kam, gab er dem mit einem großen Geist begabten Bodhisattva Mahasattva, dem Arya Avalokiteshvara, mit "ausgezeichnet!“ seine Billigung: „Ausgezeichnet, ausgezeichnet, mein spiritueller Sohn mit den Eigenschaften der (Buddha-)Familien, genauso ist es. Genauso muss er oder sie das Verhalten mit weitreichendem unterscheidenden Gewahrsein ausführen. Es ist genauso, wie du es den Bodhisattvas, (Arhats und Buddhas) aufgezeigt hast, um sich daran zu erfreuen.“

Als der Siegreiche Alles Übertreffende Meister diese Worte ausgesprochen hatte, erfreuten sich der ehrenwerte Sohn von Sharadvati, und der mit einem großen Geist begabte Bodhisattva Mahasattva, der Arya Avalokiteshvara, und die beiden Versammlungen jener, die mit allem ausgestattet sind, ebenso wie die ganze Welt – die Götter, Menschen, Titanen und die himmlischen Musiker aus Gandharava – und sie sangen Loblieder auf das, was der Siegreiche Alles Übertreffende Meister verkündet hatte.

“Shes-rab snying-po,” Skt: “Bhagavati Prajnaparamita-hrdaya”. Übersetzung ins Englische: Alexander Berzin.
Übersetzung ins Deutsche: Christian Dräger.